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Sylvia Hagemann

In den Autos


Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.

Einige saßen auf dem Berg,
um sie Sonne auch nachts zu sehen.

Einige verliebten sich,
wo doch feststeht, daß ein Leben
keine Privatsache darstellt.

Einige träumten von einem Erwachen,
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das radikaler sein sollte als jede Revolution.

Einige saßen da wie tote Filmstars
und warteten auf den richtigen Augenblick,
um zu leben.

Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

(Wolf von Wondratschek, 1976)

In den Autos

Die Autos...Sinnbild für Fortschritt...Bewegung...Mobilität...Freiheit. In diesem Gedicht aber auch Sinnbilder für Ideen und Ideale der Studentenbewegung.

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

"Sie" sind die 68´er, die ehemaligen Revoluzzer, die Mitglieder der Studentenbewegung die im Jahre 1976 schon lange zum Erliegen gekommen war. Die "alten Autos" sind genau daß, alte Autos...nicht mehr neu...nicht mehr schnell...nicht mehr daß was sie einmal waren. Sie stehen für die Studenten selber. Das drehen am Radio steht für die Suche nach etwas, so wie man nach einem Sender sucht, so sucht man auch nach einem Sinn im Leben, ein Ziel daß man erreichen will. Aber wenn einem das Ziel (also das Lied im Radio) nicht mehr gefällt dreht man weiter und sucht und sucht...die "Straße nach Süden" steht für ein schönes Leben voller Freude und Leichtigkeit. Der Süden stand damals für das Paradies, weniger geographisch gesehen, sondern vielmehr als Sinnbild für ein anderes Leben, frei von den Zwängen der alten Gesellschaft, dem Angepaßten, Passiven Leben der Eltern.
 

Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.

Die Einsamkeit steht für Aussteiger, die den Weg aus der Gesellschaft gefunden haben. Diejenigen, die wegen gewalttätigen Aktionen in die Gefängnisse mußten, fordern ihre Freunde von Früher auf, Ihren "Kampf" für eine bessere Welt weiterzuführen. Dies steht für den Zulauf den radikale Organisationen wie die Rote Armee Fraktion, RAF und andere hatten. Die "endgültigen Entschlüsse" sind Aktionen die eine Entscheidung beinhalten, weg vom friedlich  Protest, hin zu radikalen Aktionen die Änderung durch Gewalt hervorrufen wollen.
 

Einige saßen auf dem Berg,
um sie Sonne auch nachts zu sehen.

Die "auf dem Berg" sind jene die sich über alles erhoben haben, von oben beobachten sie, leben ein Leben in der Sonne. Sie sehen keine Nacht mehr, keine Finsternis, kein Böses...für sie existiert nur noch
die Sonne und das schönes Leben. Damit könnten jene gemeint sein, die sich von den Studentenbewegungen entfernt haben um sich anzupassen, Teil des "Systems" geworden sind, daß sie
zuvor bekämpft haben.

Einige verliebten sich,
wo doch feststeht, daß ein Leben
keine Privatsache darstellt.

Dieser Absatz bezieht sich meiner Meinung nach auf die sog. "Notstandsgesetze"  Durch sie ist dem Staat die Möglichkeit gegeben, bei inneren oder äußeren Bedrohungen Grundrechte aufzuheben. Als Bedrohungen werden Gefahren für die
freiheitliche Grundordnung des Bundes oder eines Bundeslandes, Spannungs- und Verteidigungsfälle und Naturkatastrophen angesehen. In allen diesen Fällen können Grundrechte (Post- und Fernmeldegeheimnis, Recht auf Freizügigkeit, freie Berufswahl u.a.)
eingeschränkt bzw. aufgehoben werden. Wer sich in einer solchen Gesellschaft verliebt, so der Autor geht daß Risiko ein, daß diese Liebe öffentlich ist...keine Geheimnisse...Spionage durch den Staat. Am 30.Mai 1968 wurde die Notstandsverfassung, trotz aller Proteste, vom Bundestag verabschiedet. Am 28.Juni 1968 trat sie in
Kraft

Einige träumten von einem Erwachen,
das radikaler sein sollte als jede Revolution.

Dies bezieht sich ganz eindeutig auf die Terrororganisationen wie die RAF. Diejenigen, die "von einem Erwachen" träumten sind jene, welche den Pfad des friedlichen Widerstandes verlassen haben und ihre Ziele jetzt mit Gewalt und Terror gegen Unschuldige durchsetzten wollen. Eine Revolution ist eine gewaltsame Umwälzung, daß Erwachen steht für eine Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis, daß Gewalt als Mittel zum Zweck dienen darf!

Einige saßen da wie tote Filmstars
und warteten auf den richtigen Augenblick,
um zu leben.

"Tote Filmstars" steht für jene, die nichts taten, die passiv alles geschehen ließen und sich nicht auflehnten, sie sind diejenigen die auf den richtigen Augenblick warteten. Sie haben sich nicht gerührt
und immer auf ein Zeichen von außen gewartet. Aber niemals selber einen Schritt in Richtung Eigeninitiative gemacht.

Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.

Diese Aussage kann sich aber auch auf die unschuldigen Opfer der neuen Terrorwelle beziehen. Denn sie Opfer starben für keine "Sache" sie wurden ermordet!

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

Dieser Absatz ist eine Selbstanklage, "Wir waren ruhig" steht für Resignation, für das Abheben des Protests und das stille Verharren auf alten Idealen und Vorstellungen. Die "alten Autos" sind die
Vorstellungen und Ideen der 68´er, die in diese Zeit nicht mehr paßten. Die ehemaligen Mitglieder der Studentenbewegung sitzen dort, still und suchen immer noch den Idealen von Damals und dem Weg in eine bessere Welt, der "Straße nach Süden".
 
 

"Ich war schon damals romantisch, / saß im Wald. haßte alle Blumen / und wollte Dichter werden / aber daraus wurde nichts." Aus Wolf Wondratschek. Er ist auch kein Dichter geworden, sondern ein Schriftsteller, der Gedichte schreibt, wie er gerne präzisiert. "Auffallend ist, daß ich erst als Erwachsener anfing, Gedichte zu schreiben. Damals waren Einakter das Tagesgespräch, das absurde Theater. Und unbedingt wollte ich auch nur für das Theater
schreiben. Gottlob ist von all meinen Versuchen nichts erhalten geblieben. Ich erinnere mich allerdings an einen heftigen Skandal in der Familie, als meine Eltern eines meiner Machwerke fanden. Diesem Erlebnis verdanke ich bis heute etwas Entscheidendes: meinen Glauben an die Wirksamkeit von Geschriebenem." Geboren wurde Wondratschek 1943 in Rudolstadt in Thüringen, er wuchs in Karlsruhe auf, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt, brach dann das Studium ab und begann 1967, Hörspiele, Prosa und Gedichte zu
veröffentlichen. Die Gedichtbände der siebziger Jahre brachte nicht ein Verlag heraus, sondern der Versand "Zweitausendeins". Der Autor war sein eigener Verleger. Mittlerweile haben seine Gedichte die Auflage von 150.000 Exemplaren überschritten. Wolf Wondratschek arbeitete auch an Filmdrehbüchern mit, bekleidete Anfang der siebziger Jahre eine Gastdozentur für Poetik an der
Universität Warwick und ging auf Vortragsreise durch
US-amerikanische Universitätsstädte. Um 1980 hielt er sich für Recherchen im Auftrag verschiedener Zeitschriften in Mexiko und den USA auf. Wolf Wondratschek über sich als Schriftsteller: "Ich beendete diese Karriere, indem ich blieb, der ich war. 'Vom Pop-Genie zum Klassiker' schrieb eine Zeitung. Daran hätte ich nichts auszusetzen, solange es nicht voraussetzt, ich sei tot."

     Quelle: Diogenes Autoren Album
 
 

1976

Das Jahr 1976 war die Zeit des Discofiebers, der desillusionierten 68´er , der entromatisierten Studentenbewegungen und der
verlorenen Träume...(und natürlich "KRIEG DER STERNE" man beachte...ein Märchen... Gut gegen Böse...Zeitgeist?)
Die RAF, die ANTIFA und andere radikale Bewegungen fanden regen Zuspruch, der friedliche, passive Weg hatte nicht zum Erfolg geführt also mußten neue radikale Wege begangen werden. Es war die Zeit in der, der Autor schon aufgehört hatte zu Studieren, er ging einem Beruf als Autor und Verleger nach. Das Gedicht läßt sich in meinen Augen am ehesten als einen Abgesang, eine Reflexion der Vergangenheit sehen. Der ehemalige Student und jetzige  Schriftsteller Wondratschek beschreibt seine Sicht der
damaligen Zeit...er blickt zurück und teilt dem Leser mit, was sich aus seiner Sicht aus der Bewegung der Studenten entwickelt hat.